Kein Gericht für alle

Patricia Riekel über den perfekten Gastgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

als Gastgeber muss man heutzutage tapfer sein. Eine größere Runde zum Abendessen einladen? Das bedarf sorgfältigster Planung, denn Sie wollen Ihre Gäste möglichst nicht in Lebensgefahr bringen. Welcher Gast leidet unter Allergien? Hunderte von Lebensmitteln könnten zu Erstickungsanfällen führen. Nicht nur Krustentiere und Fisch, sondern auch scheinbar harmlose Zutaten wie Sellerie, Tomatenpüree und Senf.

Die US-Sängerin Miley Cyrus reagiert allergisch auf Zimt, Ex-Ski-Star Felix Neureuther auf Haselnüsse. Erwarten Sie Gäste, die unter Laktose-, Fructose- oder Histaminintoleranzen leiden? Haben Sie religiöse und kulturelle Besonderheiten im Auge? Muslime essen kein Schwein, Hindus keine Rinder. Apple-Gründer Steve Jobs ernährte sich jahrelang nur von Früchten, während Model-Mama Heidi Klum kein Obst isst. Sollten Sie Schauspielerin Jennifer Aniston zum Essen erwarten: Sie lebt streng nach der Sonoma-Diät, ernährt sich von Hülsenfrüchten, Algen und Soja. Und was ist mit den empfindsamen Seelen, die sich vor halb rohem Fleisch ekeln, weil sie den roten Saft für Blut halten, obwohl es sich nur um Zellflüssigkeit handelt, die durch Myoglobin, den Farbstoff im Muskelgewebe, rot wird.

Eine Freundin von mir starrte trotzdem leicht schockiert auf den Teller mit dem Steak, das überaus rare serviert worden war. Es war ihre Geburtstagsfeier in einem Lokal auf Ibiza, und der Wirt hatte sich Mühe gemacht, ihr das größte Stück Fleisch zukommen zu lassen. Unauffällig zerteilte sie das Steak und wickelte es in eine Serviette, die in ihre Louis-Vuitton-Tasche wanderte. Groß war ihr Erstaunen als sie von ihren Tischnachbarinnen ebenfalls in Servietten eingewickelte Fleischbrocken diskret zugesteckt bekam. Und ihr Schock, als sie später das Lokal verließ und von einer Meute halb verhungerter Straßenköter bedrängt wurde, die ihr bis zum Hotel folgten.

Als Gastgeberin oder Gastgeber muss man sich darüber im Klaren sein: Essen ist nicht mehr nur die Basis eines sozialen Miteinanders, sondern auch Brennpunkt unterschiedlichster Lebensweisen. Fleischesser gegen Vegetarier, das ist wie Autofahrer versus Radfahrer. Sie ahnen, wer hier zu den Guten, und wer zu den Bösen zählt. Im vergangenen Herbst hat Uli Hoeneß, Gründer einer Wurstfabrik und Ex-Präsident des FC Bayern München, in einem Interview gegen „militante“ Veganer gewettert. Das mache die Leute auf Dauer krank, wie er meinte. Prompt erntete er einen Shitstorm in den sozialen Medien. Tierschützer empörten sich, und Schauspielerin Ursula Karven, selbst überzeugte Veganerin, bot ihm öffentlich einen Bluttest-Vergleich an, um festzustellen, wer denn nun gesünder sei.

Wenigstens muss man jetzt das Fleisch nicht mehr diskret unter den Salat schieben. Wer sich früher als Vegetarier outete, wurde mitleidig betrachtet, als leide man an unheilbarem Ausschlag. In Restaurants bekam man lediglich die Beilagen serviert, meist mit Käse überbacken, damit es nach ein bisschen mehr aussah. Heute finden sich Fleischesser auf der Liste der Umweltsünder wieder. Mit Abscheu beschrieb Lifestyle-Experte Alexander von Schönburg in seiner Kolumne, dass selbst in einem der berühmtesten Feinschmecker-Lokale, dem Eleven Madison Park in New York, fast nur noch vegane Speisen angeboten werden. Gänseleber, Kaviar, Hummer, alles gestrichen! Nur ein einziges Fleischgericht (Rinderfilet mit schwarzer Zitronenjus) steht noch auf der Speisekarte. Aber das muss in einem abgeschirmten Raum verzehrt werden. Den Anblick von Fleischessern könne man den anderen Gästen nicht mehr zumuten.

Sie merken, wie schwierig es inzwischen ist, allen Essgewohnheiten der Gäste gerecht zu werden. Ich selbst muss bekennen, dass ich für Haubenköche eine Zumutung bin. Das liegt an meiner überbordenden Fantasie. Wenn ich an Stubenküken denke, dann nicht an superzartes Fleisch, sondern an putzige gelbe Küken, die durch mein Wohnzimmer purzeln. Auch die Einladung zu einem Saumagen- Essen löste bei mir zunächst eine gewisse Distanz aus. Dabei weiß jeder Gourmet, dass es sich bei dem früheren Arme-Leute-Essen inzwischen um eine Delikatesse handelt. Feinste Zutaten aus Schweinefleisch, Brät, Kartoffeln, manchmal Maronen, dazu erlesene Kräuter, werden in einem Schweinemagen gegart. Die illustre Gästeschar aus Medien, Politik und Wirtschaft war vom Lieblingsessen Helmut Kohls begeistert, und mir hat es nach vorsichtigem Kosten tatsächlich hervorragend geschmeckt.

Manchmal muss man sich eben auch als Gast überwinden. Einer meiner Freunde, ein Hobbykoch, experimentiert gerne in der Küche. Der grüne Gelee-Würfel, den er mir als Vorspeise servierte, und der mich an Götterspeise erinnerte, wurde mir als ehemaliger Froschschenkel vorgestellt. Wenigstens konnte man nichts mehr von dem ursprünglichen Wesen erahnen, was mir den Verzehr leichter machte. Was auf meinen Teller kommt, soll nach Möglichkeit nicht mehr nach dem aussehen, was es einmal war. Wenn mir ein ganzer Fisch serviert wird, habe ich unwillkürlich Sorge, ein totes Auge könne mir plötzlich vertraulich zuzwinkern. Gut, dass ich selten nach Japan komme, wo man Schlangenschnaps mit echten Schlangen trinkt. Wobei der Japaner sich wahrscheinlich umgekehrt vor Bibergeil ekelt, eine Substanz aus den Drüsensäcken des Bibers, mit dem der Geschmack von Vanille oder Erdbeeren in Eis und Joghurt vorgetäuscht wird, was in Deutschland inzwischen aber verboten ist. Vielleicht sollte ich meine Freundin Maja beneiden, eine perfekte Gastgeberin, bei der man keine Überraschungen zu befürchten hat. Zuverlässig gibt es die köstlichsten Königsberger Klopse mit Kartoffeln.

Einen Trost habe ich jedoch für alle engagierten Gastgeber: Der Ernährungspsychologe Thomas Elliott erklärte in einem Interview, dass es einen verstärkten gesellschaftlichen Drang zur Individualität und Selbstinszenierung gebe. Und deswegen gebe es auch mehr gefühlte Unverträglichkeiten beim Essen, als echte Allergien. Das schenkt einem doch auch als Gast Zuversicht.

Ihr Team von Gault&Millau Deutschland

Text: Patricia Riekel

Fotos: Unsplash