„Man sollte selbst auf Entdeckungsreise gehen“ – Otto Geisel im Interview

Liebe Leserin, lieber Leser,

welche Spuren hat das letzte Jahr bei den Winzern hinterlassen? Wie spiegelt sich der aktuelle Trend zur Demokratisierung des Genusses in der Weinwelt wider? Und was gilt es unbedingt zu vermeiden, wenn man nach halbjähriger Abstinenz zum ersten Mal wieder Wein im Restaurant genießen kann?

Otto Geisel, Leiter des Expertenrats beim Gault&Millau Deutschland, blickt für uns in die Zukunft des deutschen Weins und verrät uns seinen persönlichen Terrassenwein für die lauen Sommerabende.

G&M: Herr Geisel, lange Zeit hat man sich gefragt, was nach Gin das neue Trendgetränk werden würde. Nun zeigt sich: Es ist – zumindest in der jungen Generation – der Wein geworden. Man trifft sich ‚auf einen Vino‘ und prahlt beim Online-Dating mit dem eigenen Weinwissen. Sind die Auswirkungen dessen in der Weinwelt schon spürbar?

Otto Geisel: In ersten Ansätzen sind diese Auswirkungen schon spürbar, ja. Man sieht, wie sich die Weinbarszene z.B. in Berlin unglaublich gut entwickelt hat, was man noch vor zehn Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Das hat dort auch die gastronomische Entwicklung enorm vorangetrieben. Auch in immer mehr Weingütern selbst gibt es ein großes Interesse daran, die elterlichen Betriebe zu übernehmen und den Generationswechsel voranzutreiben.

Was prägt denn diese neue Generation an Jungwinzern? Sind bereits Trends zu erkennen?

Die jungen Winzer geben kleinen Themen mehr Raum. Sie kultivieren beispielsweise alte Rebsorten, an denen die ältere Generation kein großes Interesse mehr hatte, und interpretieren sie neu. Die Aldingers in Württemberg zum Beispiel haben den Trollinger von Grund auf neu erfunden, der vorher vornehmlich ein Getränk der älteren Generation war. Auch der Gutedel im Markgräfler Land, der eigentlich nur als einfacher Weinfest-Wein galt, wird plötzlich durch Hans-Peter Ziereisen auf Kultstatus gehoben.

Zahlreiche junge Winzer und Winzerinnen sind in Verbänden wie beispielsweise Generation Riesling organisiert. Liegt die Zukunft im Teamwork?

Absolut. Es gibt immer mehr solcher Projekte und ich glaube, einer der wesentlichsten Effekte dieser Kooperationen ist die eigene Weiterentwicklung durch Gedankenaustausch und Wissenstransfer. Da ist in Deutschland momentan sehr viel in Bewegung. So sind zum Beispiel die ersten Ansätze erkennbar, den Effekten des Klimawandels auf den Wein – höhere Zucker- und Alkoholgrade – durch sehr innovative Maßnahmen entgegenzuarbeiten. Die Leichtigkeit, die beispielsweise einen Riesling auszeichnen kann, sollte nicht zugunsten von Kraftpaketen mit 14% Vol. plus verloren gehen.

Wo steht der deutsche Wein denn heute mit seinem Image?

Er wird im Ausland immer noch zu wenig anerkannt und wahrgenommen. Da wird sich bald sicherlich etwas tun, das sehen wir auch als eine unserer Aufgaben beim Gault&Millau. Wir wollen die deutschen Winzer begleiten und ihre Weine auch ins Ausland tragen. Wir haben viele Klimazonen in Europa, die den Ausbau filigraner leichter Weißweine gar nicht möglich machen, warum sollte in Südfrankreich oder Italien nicht gerade deswegen Riesling von der Mosel getrunken werden?

Was möchten Sie den jungen Weintrinkern mit auf den Weg geben, die gerade ihre Liebe zum Produkt entdecken?

Wein ist keine Geheimwissenschaft. Freude am Wein kann jeder empfinden, der mit offenen Augen an das Thema herangeht. Ich halte nicht viel von Weinbeschreibungen und irgendwelchen Aromaprofilen. Das ist, als würde man einen Krimi von hinten nach vorne lesen. Man sollte sich weniger an plakativer Wein-Lobhudelei ausrichten, sondern selbst auf Entdeckungsreise gehen und einfach mal schauen, was einem intuitiv entspricht. So verstehen wir auch den Gault&Millau: Wir versuchen, den Wein situativ und assoziativ zu erklären und Impulse für das eigene Entdecken zu geben.

Wie wird so eine Entdeckungsreise in den deutschen Weinbaugebieten garantiert zum Erfolg?

Vorher einen unserer regionalen Weinguides kaufen (lacht). Die sind ja extra für den touristischen Aspekt konzipiert, d.h. wir liefern kein Nachschlagewerk wie ein Telefonbuch mehr, wo die Weingüter alphabetisch geordnet sind, sondern gehen in die Regionen, auch in die Unterregionen, und geben Tipps, wo man übernachten, Essen gehen oder am Wegesrand bei einer tollen Metzgerei anhalten kann. Eine Fahrt ins Blaue würde ich niemandem empfehlen, da die wenigsten Weinbaugebiete in Deutschland kompakt sind, auch wenn die Weinstraßen dies suggerieren.

Die Absatzzahlen deutscher Weinhandlungen haben sich über das letzte Jahr massiv erhöht. Im Schnitt trank jeder Deutsche 2020 eine ganze Flasche mehr als in den Vorjahren. Machen die Winzer gerade das Geschäft ihres Lebens?

Die Winzer, die mit einem Online-Shop und Erfahrung im E-Commerce gut aufgestellt sind, waren zweifelsohne die Gewinner. Das Mehr an Zeit, das Corona einfach mitgebracht hat, führte vielerorts auch dazu, dass man sich selbst etwas gekocht und dazu eine schöne Flasche aufgemacht hat. Bei den Winzern hat sich das schon signifikant niedergeschlagen, aber der Weinmarkt an sich hat sich nicht so bewegt, wie man das vielleicht vermutet. Allerdings hat sich bei höherpreisigen Weinen mehr getan als im Billig-Sektor. Man weiß heute, dass nur 11% der Kunden ganz gezielt innerhalb eines Preissegments kaufen, aber die anderen 89% ihren Wein situationsbezogen z.B. für den Besuch bei den Schwiegereltern, zum BBQ oder als Terrassenwein auswählen.

Die Beschreibung ‚Terrassenwein‘ z.B. für einen süffig-spritzigen Rosé wird in letzter Zeit immer häufiger gebraucht. Welcher Wein ist Ihr persönlicher ‚Terrassenwein‘?

Das kann durchaus ein Rosé sein. Rosé ist eine ganz wunderbare Sache, wenn er auch als solcher vom Winzer geplant und nicht ein verunglückter Rotwein ist, der sich aufgrund von Fäulnis o.Ä. nicht mehr für eine richtige Maischegärung eignet. Ansonsten trinke ich für mein Leben gern Silvaner als Terrassenwein, weil er einfach eine wunderbare Sanftheit hat, nicht zu viel Säure und trotzdem so spannend ist, dass er nicht schon nach dem zweiten oder dritten Schluck langweilig wird.

Die Restaurants öffnen wieder und manch einer hat über das letzte halbe Jahr vielleicht etwas von seiner Weinkompetenz verlernt: Welchen Fauxpas gilt es bei der Weinbestellung im Restaurant unbedingt zu vermeiden?

Die Grundregel, dass man zu Fisch Weißwein und zu Fleisch Rotwein trinkt, ist lange überholt. Bei asiatischer Küche gilt jedoch: Schärfe harmoniert nicht gut mit zu hohen Alkoholgraden. Da empfiehlt es sich, leichte Weine auszusuchen. In den meisten empfehlenswerten Restaurants ist Weinkompetenz in der Regel ohnehin Teil des Service. Ich würde darauf vertrauen, was dort glasweise zum Menü oder dem gewählten Gericht angeboten wird. Mit dem gefestigten Plan in ein Restaurant zu gehen, diesen oder jenen Wein unbedingt trinken zu müssen, ist zwar auch kein großer Fauxpas, führt aber einfach nicht zu einem besonders glücklichen Ergebnis.

Das Interview führte Nick Pulina.

Foto: Dominik Ketz
Zur Verfügung gestellt von
Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH

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