„Die Leute wollen Hühnchen essen – aber halt kein Fleisch.“

Schwindelerregende Wachstumsraten, eine exzellente CO2-Bilanz und vielleicht der Ausweg aus einem moralischen Dilemma – aber haben vegane Fleischalternativen auf der Speisekarte eines Spitzenrestaurants etwas verloren? Tim Raue findet: Selbstverständlich! Wir haben da ein paar Fragen.

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INTERVIEW Christoph Wirtz | FOTO Florian Reimann | ILLUSTRATION Evelyn Neuss

Mangelnden Geschäftssinn hat Tim Raue – Spitzenkoch, Patron von gleich neun Restaurants, Fernsehnase, Werbebotschafter für Tiernahrung und eloquenter Kreuzberger Krawallbruder – noch niemand vorgeworfen. Dass er sich heute nicht nur als Marketingprofi, sondern gleich als Teilhaber für die pflanzlichen Fleischalternativen des Schweizer Start-ups Planted engagiert, zeigt sein Gespür für den Zeitgeist. Allein: Wie schmeckt ein gutes Gewissen? Besuch in seinem Berliner Restaurant, serviert wird vegane „Hühnerbrust“, gedämpft und gebraten, mit einer „Miso-Vegannaise“, Habanero-geschärftem Selleriepüree, in Kurkumaessig gepickelten Rübchen, Ingwer und Mandarinen-Gel.

Das war jetzt die erste pflanzenbasierte „Hühnerbrust“ meines Lebens…

Und, wie fanden Sie’s?

Verblüffend. Spannende Textur. Aromatisch kam da nicht viel rüber, bei längerem Kauen wurde es ziemlich getreidig.

Die Struktur der Planted-Produkte ist der Hammer, extrem nah an Geflügel und Fleisch. Das steht im Vordergrund.

Und genau das ist das Problem. Quizfrage: Was schmeckt Ihnen und mir besser: Die Brust eines langsam, natürlich aufgezogenen Bio-Huhns – oder die vegane Imitation?

Wenn Sie mich fragen, was vernünftiger ist …

Tue ich nicht. Sie sind Koch, ich bin Kritiker. Wir reden über Geschmack.

Geschmacklich ist das gar keine Frage. An ein Huhn von Lars Odefey, an eine Bresse-Poularde kommt das nicht ran. Ohne Diskussion: Das ist ein Ersatz. Und bestimmt noch kein gleichwertiger.

Also reden wir von einer Art Trägermasse, einer weißen Leinwand als Würzgrundlage?

Definitiv. Diese Produkte brauchen Geschmack. Das Problem der veganen Küche ist ja oft die mangelnde Sorgfalt, es wird nicht ordentlich gewürzt.

Das widerspricht natürlich allem, was wir über gute Küche gelernt haben: Produkte mit großartigem Eigengeschmack werden möglichst schonend so zubereitet, dass er erhalten bleibt, spannend eingerahmt oder kontrastiert wird.

Bei uns essen inzwischen knapp 30 Prozent der Gäste das vegane Menü. Vor drei Jahren haben drei Prozent das vegetarische Menü gewählt! Wir haben durch Netflix und „The World’s 50 Best Restaurants“ Gäste, die unter zwanzig bis Mitte dreißig sind. Die haben keine Referenz, was eine perfekte bretonische Jakobsmuschel ist. Die wissen nicht, wie eine getrüffelte Poularde schmeckt. Das ist für sie nicht der Vergleichsmaßstab. Und das ist für sie auch nicht relevant.

Schrecklich!

Das sehen Sie so. Ich bin knapp fünfzig, ich habe auch eine andere Prägung. Aber diese Menschen haben ihr eigenes Bewusstsein. Für die ist es wichtiger, vegan zu leben und keine tierischen Produkte zu konsumieren, als das bestmögliche Geschmackserlebnis zu haben. Wobei ich feststelle, dass sich das dreht, wenn sie einmal eine Begegnung mit einem sensationellen Produkt hatten, ein Erweckungserlebnis. Das nächste Mal wollen sie dann halb und halb essen …

Wäre genau das nicht Ihre Aufgabe? Mit Ihrer medialen Power dafür zu sorgen, dass die Menschen den Wert großartiger Lebensmittel verstehen?

Man kann ja das eine tun, ohne das andere zu lassen.

Klar. Und trotzdem gehen die veganen „Fleischalternativen“ für mich am Thema vorbei. Statt Zielkonflikte zu diskutieren, auch moralische, entkoppeln wir uns noch weiter von der Realität der Lebensmittelerzeugung und basteln uns unterkomplexe Illusionen als Pseudoalternativen.

Ich kann Ihnen nicht unrecht geben. Aber das geht an die Wurzeln unserer Esskultur. Das hat mit unserer miesen Prägung zu tun. Wir haben hier in Deutschland Lebensmittel und deren Produzenten noch nie besonders wertgeschätzt. Ich habe ein Haus in Italien, wenn man da über den Käse auf dem Tisch spricht, wird sofort der Name des Erzeugers genannt. Man ist dort stolz auf dieses Produkt. Davon sind wir meilenweit entfernt!

Und werden lieber Veganer, als anzufangen, uns mit Innereien und anderen „unedlen“ Teilen auseinanderzusetzen …

Weil wir es nicht müssen. Meine italienischen Nachbarn in Sizilien sind arm, die müssen – und wollen – alles essen. Uns ging’s noch nie so gut! Und das Ergebnis ist, dass es eine ganze Generation ankotzt, im Supermarkt 15 Meter Fleischregal zu haben, von denen zwei Drittel kein Mensch braucht. Wir brauchen diesen ganzen industriellen Drecksfraß nicht. Dafür muss kein Tier sterben!

Das gefällt mir an Ihrem Produkt: Die kurze Zutatenliste.

Es hat eine wahnsinnige Entwicklungszeit gedauert, dahin zu kommen. Das hätten wir alles deutlich schneller haben können, wenn wir irgendwelche Pulver nutzen würden. Planted verzichtet zu hundert Prozent auf chemische Zusatzstoffe. Die Produkte bestehen aus reinem Erbsenprotein, fermentiert.

Das gibt’s in der klassischen „sh jin ryri“ – der traditionellen buddhistischen Tempelküche in Kyoto – schon seit Jahrhunderten: kulinarisch ausgereift, komplex, hochinteressant. Nur kommt da kein Mensch auf die Idee, von „veganem Fleisch“ zu sprechen. Warum veranstalten wir diesen semantischen Popanz? Wir arbeiten doch heute alle hart an sprachlicher Transparenz, an Sensibilität …

Weil die Leute eben eigentlich doch Fleisch essen wollen. Die wollen ein Hühnchen essen – aber halt kein Fleisch. Das hat uns die Marktforschung klar gezeigt: Wenn wir es „Erbsenbratling in Hühnerbrustform“ nennen, zieht’s nicht.

Es gibt ganz fabelhafte Pâté aus Steinpilzen, die wird als „vegane Leberwurst“ diskriminiert. Das ist kurz vorm „Seniorenteller“!

Der Kunde versteht nur, was er kennt. Ich bin damit auch noch lange nicht happy. Sie haben Recht: Wir müssen dem einen eigenständigen Namen geben.

Unter anderem. Was sind die nächsten Schritte?

Wir arbeiten an der Entwicklung von Schweinefilet, Kabeljau und Garnelen.

Und wie lange wird es dauern, bis weder Sie noch ich einen Unterschied zum Original feststellen?

Das wird nie passieren.

Und trotzdem haben Sie das Produkt hier auf der Karte: „PLANTED SATÉ | mango | erdnuss“.

Ja. In einem Gang. Wir haben einfach festgestellt: Nach sieben Gängen Gemüse hat kein Gast ein angenehmes Sättigungsgefühl. Er braucht Getreide und Hülsenfrüchte. Und beides hat in unserer Küche eigentlich nichts zu suchen. Die vegane Fleischalternative ist für uns eine gute Lösung. Vielleicht gerade, weil sie bei mir nicht naheliegt.

Wieso?

Früher habe ich Veganer gehasst, die sind mir echt auf den Sack gegangen mit ihrer Attitüde. Es laufen ja im Moment ziemlich viele Leute mit dem erhobenen Zeigefinger rum und bekommen viel zu viel Aufmerksamkeit.

Stimmt.

Bei mir hat eine persönliche Lebenssituation den Ausschlag gegeben. Ich musste gesundheitlich mal drei Monate eine harte Diät fahren. Die war vegan und hat funktioniert. Seither weiß ich: Da ist was dran, man ist fitter, fühlt sich besser. Und seither haben wir ein veganes Menü auf der Karte.

Angeblich gibt’s durch Fleischersatzprodukte keine Substitutionseffekte. Der Markt dafür wächst, der Fleischkonsum bleibt aber konstant …

Das glaube ich nicht. Ich spreche gerade mit einem der ganz großen Discounter über das Thema, die sagen mir was anderes. Es gibt gewaltige Zuwachsraten bei den Alternativen und vieles, besonders verarbeitetes Fleisch, fällt dafür hinten runter. Steak, Filet geht noch – Ćevapčići, Dönerfleisch, Buletten verlieren gewaltig.

Ein Lichtblick! Und trotzdem gilt: Wenn das Imitat teurer ist als das Original, muss man schon sehr überzeugt sein, es zu kaufen.

Ja. Aber diese Haltung existiert. Und sie nimmt zu. Und mir als Koch bringt es nichts, daran vorbei zu kochen. Ich habe einen Laden als Leuchtturm und acht Restaurants, die im Mainstream fischen. Wenn ich sehe, was bei uns bei Instagram explodiert – das Thema Fleischersatz kommt, und es kommt heftig!

Und als Nächstes kümmern Sie sich dann um alkoholfreien Wein?

Nein. Da bin ich Snob. Ich trinke wenig, aber nur das absolut Beste. Außerdem ist alkoholfreier Wein ein Trendprodukt. Und ich hasse Trends. Trends sind für Schwache, die opportunistisch immer wieder checken, welches Schweinchen gerade durchs Dorf getrieben wird.

Sagt der Spitzenkoch, der Fleischersatz auf der Karte hat.

Trends gehen. Das bleibt.