Von Höhlen, Höhen und Historie

Hier wurde Menschheitsgeschichte geschrieben, wurden die ersten von Menschenhand geschaffenen Kunstwerke entdeckt. Aber auch erdgeschichtlich hat die Schwäbische Alb mit ihren Fossilien aus dem Jurameer, Vulkankratern und einem weitverzweigten Höhlennetz einiges zu bieten: Aus einem eigentlich kargen Stück Land mit unfruchtbaren Böden hat sich der Landstrich im Süden von Stuttgart zu einer wahren Genussregion entwickelt. Die Hauptrollen spielen dabei unter anderem Linsen, Streuobstwiesen und sogar eine Schnecke.

Die Alb, die Schwäbische. Ja, sie schreibt sich mit dem weichen B, nicht mit dem harten, angelehnt an die Alpen. Obwohl: Die Wörter sind irgendwie verwandt. Woher die Alb ihren Namen hat, wissen Historiker nicht so genau. Auf keinen Fall vom Albtraum. Im Gegenteil. Es ist richtig schön rund um Ehingen, Zwiefalten, Hohenstein und in den größeren Städten wie Reutlingen und Tübingen. Die Schwäbische Alb, 180 Kilometer lang und 40 Kilometer breit, nimmt ein Fünftel von Baden-Württemberg ein, wird eingegrenzt von Tuttlingen im Westen und Ellwangen im Osten. Wer sich dem Land mit seinen schroffen Felsen, engen Tälern und steilen Hängen nähert, erfährt Geschichte ohne Ende, kann eine Reise in die Vergangenheit unternehmen, viel über die Urzeit lernen, landet aber auf jeden Fall wieder im Hier und Jetzt. Und das ist meistens lecker.

Eine Station auf dieser Reise sollte unbedingt Lichtenstein sein. Die Sehenswürdigkeit dort am Ende der extrem langen Straße (Vorsicht: Tempo 30 mit Radarkontrolle) ist Schloss Lichtenstein. Es wurde 1842 von Graf Wilhelm von Württemberg auf einem Felsen erbaut – aber nur, weil dem Herzog der Roman „Lichtenstein“ von Wilhelm Hauff aus dem Jahr 1826 so gut gefiel. Wer hier steht, erlebt Alb pur. Höhenangst ist verboten, wer sich dem Albtrauf mit seinem spektakulären Felsenrand und den gewaltigen Höhenunterschieden nähert. Im Echaztal offenbaren sich sensationelle Ausblicke auf die ursprüngliche und raue Landschaft. Die Aussicht geht bis nach Reutlingen und zum Mittleren Neckar, streift aber immer wieder den Albtrauf, der vor Jahrmillionen entstanden ist. Und nötigt dem Besucher Respekt ab. Denn hier steht man auf Boden, der sich gebildet hat, nachdem sich das Jurameer zurückgezogen hat. In und an diesem Meer lebten damals Meereskrokodile, Saurier wie der Ichthyosaurier, Haie und Störe.

Übrig geblieben ist diese schroffe Landschaft, sind karge Böden, aber auch versteinerte Fische und andere Fossilien und vor allem Höhlen – 2800 sind bekannt. Weil die Alb das größte Karstgebiet ist und der Boden aus Kalkstein besteht, versickert das Wasser auf der Oberfläche und hat so ein – zum Teil sogar begehbares – Höhlensystem entstehen lassen. Als herausragend sind die Wimsener Wasserhöhle, die Laichinger Tiefenhöhle, die Falkensteiner und die Nebelhöhle, aber auch die Bärenhöhle zu nennen, ebenso der Blautopf bei Blaubeuren als Karstquelle.

Und in genau diesen Höhlen ereignete sich legendäre Menschheitsgeschichte: Dort wurden die ältesten Musikinstrumente und figürlichen Darstellungen gefunden wie die berühmte 35.000 Jahre alte Venus vom Hohle Fels, aber auch der 40 Zentimeter große Löwenmensch oder kleine, aus Elfenbein geschnitzte Pferdefiguren. Die Eiszeit-Kunst, die als erste kulturelle Leistung des Menschen gilt, ist seit 2017 UNESCO-Weltkulturerbe. All das lässt sich für den Besucher nacherleben – in Museen, bei Aktionen zum Selbstmachen oder bei einem Tauchgang in einer Höhle.

Aber auch auf andere Art lässt sich die Alb mit allen Sinnen erleben: beim Genuss. Da bieten sich viele Spezialitäten an, die zum Teil typisch schwäbisch – wie die Maultaschen und Spätzle –, aber zum anderen Teil typisch älblerisch sind. Man kommt bei diesem Thema um die Linse nicht herum: Sie wurde früher oft und gerne angebaut, weil sie auf dem sehr kargen Boden gut gedieh. Die Alb wurde zum Schwerpunkt des deutschen Linsenanbaus – bis weit in die 1950er-Jahre. Dann wurden Linsen irgendwie uncool und von anderen Ernährungstrends abgelöst. In den 1980er-Jahren kamen einige Bio-Bauern auf die Idee, aus Frankreich die Le-Puy Linse-einzuführen und anzubauen – als Grundlage für das schwäbische Nationalgericht Linsen mit Spätzle. Aber die alte Alb-Linse war nie vergessen, darum wurde noch einmal 20 Jahre später gezielt nach altem Saatgut gesucht und in einer russischen Gendatenbank gefunden. Seitdem wird die kleine Frucht in einer Erzeugergemeinschaft von mehr als 50 Anbaubetrieben gehegt und gepflegt. Plötzlich ist die Linse wieder in – weil sie ein Eiweißlieferant ist, weil sie zur vegetarisch-veganen Küche passt und natürlich: weil sie von der Alb kommt und damit ein regionales Produkt ist. Das hat zur Folge, dass die Alb-Leisa, wie sie auch heißen, stark nachgefragt sind.

Ebenso wie ein weiteres Alb-Produkt: die Weinbergschnecke. Schon früh gab es in der Gegend Schneckenzüchter, zum Beispiel in Hayingen-Indelhausen. Schnecken galten in der adventlichen Fastenzeit als leckere Spezialität und wurden darum auch mühsam über die Donau in Fässern nach Österreich transportiert. Aus dem Jahr 1624 ist eine solche Fahrt zu Klöstern nach Österreich belegt. Auch heute noch spielt die Helix pomatia eine große Rolle: So ist die Albschnecke nach einer Anregung von Slow Food ein „eingetragenes Markenzeichen zur Wiederbelebung der traditionellen Schneckenproduktion“. Außerdem ist die „Ulmer Auster“, wie sie auch genannt wird, das Wappentier der Slow-Food-Bewegung. 

Der Genuss von der Alb hat noch mehr Beteiligte: So gibt es Käse vom Albbüffel, Safran aus Sonnenbühl, schwäbischen Whisky aus Tübingen und Owen, Lamm von der Wacholderheide, Bier aus Ehingen, aber auch Schwäbischer-Alb-Dinkel. Der wurde auf Initiative des Bäckers Heiner Beck rekultiviert. Eine eigene Erzeugergemeinschaft kümmert sich um das Korn, das dann in Mühlen und Bäckereien weiterverarbeitet wird. Genuss von der Alb darf nicht ohne die landschaftsprägenden Streuobstwiesen erzählt werden. Zwischen Alb und Neckar bilden sie mit rund 26.000 Hektar eine der größten zusammenhängenden Streuobstlandschaften Europas. Dort stehen 1,5 Millionen Obstbäume –es wachsen Äpfel, Birnen, Kirschen und Zwetschgen. In vielen Brennereien und Mostereien werden die Früchte verarbeitet. Vorzeigeproduzent ist Jörg Geiger in Schlat, der aus dem Wiesenobst Destillate, Schaumweine, alkoholfreie Priseccos und Gin produziert. Wenn schon ein Genuss-Botschafter der Alb erwähnt wird, darf Simon Tress, einer der bekanntesten deutschen Bio-Köche, nicht fehlen. Er übernahm den elterlichen Gastronomiebetrieb in Hayingen-Ehestetten im Biosphärengebiet und setzt in Hotel und Restaurant seine Idee von Bio-Küche um. Regionale Produkte spielen bei der Zubereitung die wichtigste Rolle. In seiner Manufaktur produziert er mit seinen Brüdern außerdem Convenience in Bio-Qualität.

Und der Wein? Wächst der auch auf der Alb? Eher am Rande, schuld sind Klima und Höhe. Aber eines der wenigen Weingüter sollte doch erwähnt werden – das von Helmut Dolde in Frickenhausen. Der frühere Biologie-Lehrer bewirtschaftet auf 530 Metern Meereshöhe einen der höchsten Weinberge Baden-Württembergs und bringt jedes Jahr immer wieder tolle Silvaner, Rieslinge oder Spätburgunder hervor, die bei vielen Wettbewerben Preise einstreichen.

TEXT Anke Kronemeyer