Liebe auf den zweiten Blick

Genussguide Südtirol: Wipptal und Eisacktal

TEXT Hartwig Mumelter | FOTOS IDM Südtirol/Alex Filz

Geografie und Geschichte stellen den Menschen nicht selten vor schwierige Rätsel. Im konkreten Fall beginnt das Wipptal bereits nördlich des Brenners und zieht sich bis Franzensfeste im Süden hin. Zwei Flüsse und mehrere Höhenlagen bilden keine nachempfindbare Einheit. Am ehesten könnte eine Wippe mit Schwerpunkt Brennerpass den geografischen Fauxpas und den Namen erklären. Der Eisack, der nördlichste Fluss Italiens, entspringt jedenfalls bereits am Brenner auf 1900 Metern Höhe. Als Namensgeber des 80 Kilometer langen Tals fungiert er – wie bereits erwähnt – erst weiter südlich.

Wer von Norden nach Südtirol reist, fährt in der Regel über den Brennerpass. Die erste Sehnsucht – ein „caffè italiano“ – kann im neuen Plessi-Museum gestillt werden. Fabrizio Plessi, einer der Hauptakteure der europäischen zeitgenössischen Kunst, hat es entworfen. Doch dann ist auch schon Schluss mit der erwarteten „Italianità“. Denn obschon der Brennerpass eine geo- grafische und seit nunmehr 100 Jahren auch eine politische Grenze bildet, ist von den Gepflogenheiten des Stiefelstaates kaum etwas bis hierher vorgedrungen. Außer den unzähligen leer stehenden Kasernen, die bis zur Aufhebung der Militärpflicht in Italien Tausende Gebirgsjäger beherbergten. Klima, Dialekt und Mentalität bilden eine Einheit mit dem nördlichen Wipptal und somit wäre der erste Teil des Rätsels gelöst. Sterzing, als Wipptaler Hauptort, ist eine prosperierende Stadt. Hier wurde vom Mittelalter bis 1985 am Schneeberg eines der höchstgelegenen Bergwerke Europas betrieben, einer der Gewerken (Grubenbesitzer) waren die Augsburger Fugger (1525–1663); heute ist es ein Schaubergwerk.

Kulinarisch gesehen hat das Wipptal erst seit circa 30 Jahren Relevanz. Der Tourismus trug seinen Anteil wesentlich dazu bei. Weiter im Süden macht der Weinbau das Tal lieblicher. Da ist man schon im Eisacktal. Details, die Goethe wohl nicht kannte.

Er beschwerte sich zu Beginn seiner Italienreise darüber, dass „die Postillons fuhren, dass einem Hören und Sehen verging, sodass es mir Leid tat, diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichen Schnelle und bei Nacht wie im Fluge zu durchreisen“. Hehre Notizen, die der Geheimrat in seinem Tagebuch hinterließ, zumal diese Reise ja nach Sizilien führte. Kloster Neustift bei Brixen ist das geistige und geistliche Zentrum des Eisacktals. Seit 900 Jahren haben die Augustiner-Chorherren die Geschicke der Talschaft geprägt. Brixen als Bischofsstadt tat das ihre dazu. Der Klerus ließ neben Wein auch Kastanienbäume veredeln. Das untere Eisacktal zählt Tausende dieser kostbaren Fruchtspender, die die Mönche und Nonnen (Benediktinerinnen, Kloster Säben) durch die Fastenzeit bringen sollten.

Heute donnern viele Reisende mit dem Ziel Gardasee oder Adria einfach über die Auto- bahn. Und den meisten kann man dies gar nicht verübeln, denn Eyecatcher hat das Tal wenige zu bieten. Doch wer die Transitstrecke verlässt, wird reichlich belohnt. Einige Dolomitentäler wie das Grödner, das Villnösser oder das Tierser Tal zweigen vom Eisacktal ab und Städte wie Brixen und Klausen sind mehr als nur einen Abstecher wert. Eine vernünftige Balance zwischen Fremdenverkehr, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft hat einen begehrenswerten Lebensraum geschaffen. Hochdekorierte Köche verwöhnen eine anspruchsvolle Klientel in ihren Gourmettempeln oder Luxushotels. Daneben haben bodenständige Wirtshäuser standgehalten. Vor dem Bau der Brennerautobahn profitierten Wirte an der Hauptstraße von den hungrigen und durstigen Reisenden. In den 1970er-Jahren ähnelten Hotelküchen eher Schnellfütterungsanlagen. Erfreuliche Ausnahmen davon waren Traditionswirtshäuser wie „Stafler“ (Mauls) und der Brixner „Elephant“. Reisende wurden und werden hier nie mit Experimenten verunsichert.

Elefanten, so sagt man, sind ruhige Riesen mit der seltenen Fähigkeit, sogar die Bewegung der Erdkugel als einen gera- de noch erträglichen Geschwindigkeitsrausch zu empfinden. Als die Brixner beim Jahreswechsel 1551/1552 zum ersten Mal endlich einen Elefanten zu Gesicht bekamen, hatten sie bereits eine Generation lang ein „falsches“ Fresko von ihm gesehen: Der Maler, der im Kreuzgang anno 1470 die Bibelstelle mit dem Elefanten gestalten musste, hatte selbst nie einen dieser Dickhäuter vor Augen und malte, in höchster Not erfinderisch, einen „Pferdefant“, etwas Ross-Ähnliches mit einem langen Schlauch vorne dran. Dann kam, auf dem unendlich langen Weg von Indien nach Wien, Ende 1551 der richtige Elefant Soliman für zwei Wochen nach Brixen – ein Geschenk des portugiesischen Königs Johann III. für seinen Neffen, Erzherzog Maximillian von Österreich. „A Riesnviech!“ – die Brixner staunten und standen Spalier. Noch nie zuvor hatten Menschen aus Brixen einen Elefanten gesehen, dementsprechend groß war der allgemeine Auflauf. In der Chronik ist die Unmenge an Futter vermerkt, die der seit Menschengedenken schwerste Gast der Stadt an einem Tag verschlingen konnte. Beherbergt wurde er von Andrä Posch, der zur ewigen Erinnerung an ihn sein Gasthaus in „Am Hellephanten“ umtaufte und ein Fresko an der Mauer anbringen ließ. Der Elefant hat Brixen bestens gestärkt verlassen; verendet ist er 1553 in der Nähe von Wien. Das stattliche Anwesen „Hotel Elephant“ ist seit 1773 im Familienbesitz Heiss(-Falk). Eine Elefantengeduld beweist auch Harald Gasser vom Aspingerhof in Barbian. Der umtriebige Gemüsebauer hat sich seltenen und vergessenen Sorten verschrieben.

Dem ehemaligen Sozialbetreuer ist ein Meisterstück gelungen. Mithilfe von Spitzengastronomen hat er Inhalt und Aussehen sämtlicher Kreationen verändert und vor allem erneuert. Wenn Harald Gasser seine Rüben erntet, blickt er auf die Villnösser Geislerspitzen, den einstigen Klettergarten von Reinhold Messner. Dort weidet das Villnösser Brillenschaf, das gerade eine wunderbare Renaissance erlebt. Das wertvolle Bergschaf fiel der „Rassenbereinigung“ des Naziregimes beinahe zum Opfer. Als zu klein, zu minder und nicht „rein- rassig“ sollte es durch produktivere, „rein weiße“ Arten ersetzt werden. Das Brillenschaf konnte in Villnöss wie auf der Arche Noah überleben. Heute ist der Bestand gesichert und das Fleisch wird gekonnt in die heimischen Gerichte eingebaut. Nicht zu Unrecht gilt die Eisacktaler Kost mit ihren vielen überlieferten und zeitgemäß verfeinerten Leckerbissen als die vielleicht kompakteste Küche Südtirols. Einen Versuch wäre es allemal wert.

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