„Es ist einfach so passiert“ – Koch des Jahres Dylan Watson-Brawn im Porträt 

Acht Gäste nehmen am L-förmigen Holztresen Platz. Er steht hinter einer wenig einladenden Stahltür irgendwo im Berliner Stadtteil Wedding. Das hier zu erlebende Menü sucht in seiner Vielseitigkeit und Liebe zum Kleinteiligen auch über die Hauptstadt hinaus seinesgleichen. Am Herd der einsehbaren Küche steht ein junger Mann aus Kanada, der die Birkenstocks den Sneakern vorzieht, hochgekrempelte Hemdsärmel und Stoffschürze der Kochjacke, und seit vergangener Woche den Titel trägt: Gault&Millau Koch des Jahres 2022 – Dylan Watson-Brawn. 

Den Traum vom Leben als umfeierter Spitzenkoch hatte Watson-Brawn nie. Wo es für den jungen Kanadier einmal hingehen sollte, wusste er nicht. Nach einem Schlüsselerlebnis in seiner Jugend sucht es sich vergebens, die Liebe zum Kochen entwickelte sich: „Mit 14 Jahren hatte ich das Glück, an drei Tagen in der Woche in einer Küche aushelfen zu dürfen und bin einfach dortgeblieben. Ich habe mich nie aktiv dazu entschieden, Koch zu werden. Es ist dann so passiert.“ 

Und wie es passierte! Gerade einmal drei Jahre später hatte Watson-Brawn seine Ausbildung zum Koch absolviert. Nicht in seiner kanadischen Heimat, sondern in Tokio. In der Restaurantlegende Nihonryori RyuGin. Als jüngster Absolvent nicht-japanischer Herkunft.  

Mit diesem Eintrag in der Vita, neu erworbenem Können und einer gehörigen Portion Motivation im Gepäck führte es den Yamamoto-Schüler mit dem Kopenhagener NOMA und dem New Yorker Eleven Madison Park gleich an zwei kulinarische Zentren der Erde. Auf die Frage, was ihn schließlich 2014 nach Deutschland verschlagen hat, antwortet er gewohnt wie bestechend schlicht: „Auch das ist einfach so passiert. Damals war in Berlin gastronomisch noch nicht so viel los wie heute, alles war gerade erst am Entstehen“. Daraus, dass ihn eher die Liebe zu seiner Freundin nach Berlin gezogen hat als der hiesige Umgang mit Lebensmitteln, macht er keinen Hehl: „Perfekte Zutaten werden in Deutschland nicht geschätzt“, sagte er vor vier Jahren dem Tagesspiegel. Es gehe dem Publikum hier um möglichst komplexe Gerichte, nicht wie beispielsweise in Japan um die Klarheit des Produkts. Und doch konnte er mit genau dieser Klarheit schlussendlich auch in Deutschland überzeugen. 

Als Watson-Brawn 2017 seine WG-Küche, in der er zuvor so professionell wie möglich Gäste bewirtet hatte, verließ, wurde Zeit für etwas Neues, etwas Festes. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Spencer Christenson gründete er das Restaurant ernst im Wedding. „Nicht noch ein Pop-Up“, hörte man einige Berliner seufzen, die die hohe Fluktuation potentieller Lieblingsrestaurants nicht mehr verkraften wollten. Eine verständliche, wenn auch in diesem Zusammenhang gänzlich unbegründete Sorge: Man war gekommen, um zu bleiben. Das ernst feiert in diesem Jahr bereits sein fünfjähriges Bestehen. 

Der anfängliche Hype ist abgeklungen, die Vorschusslorbeeren der Bewunderung für einen begnadeten Visionär gewichen: „Watson-Brawn hat zu einer handwerklichen wie konzeptionellen Reife gefunden, zu einer konsequent durchdachten Individualität, wie sie nicht nur hierzulande höchst selten ist“, sagt Christoph Wirtz, Chefredakteur des Gault&Millau-Restaurantguides, in seiner Laudatio auf den Koch des Jahres. 

Ist Berlin mit Watson-Brawn also um einen in japanischen Geschmackswelten agierenden Spitzenchef reicher geworden? Er hat schließlich in Japan gelernt, und auch das Konzept des demokratisierten Tresens, über den die acht Gäste pro Seating immer wieder Miniaturgerichte – im Schnitt 30 bis 40 am Abend – gereicht bekommen, mutet äußerst japanisch an. So leicht lässt sich der Chef nicht abstempeln: „Ich koche nicht japanisch, ich habe in Japan kochen gelernt. Deswegen koche ich so, wie ich koche – und nicht so, wie jemand, der in Frankreich kochen gelernt hat.“ 

Dass es gerade die Liebe der japanischen Küche für präzisestes handwerkliches Arbeiten ist, die in Watson-Brawns Küche fortbesteht, konstatiert auch der Gault&Millau in der Auszeichnungsbegründung: „Im Zentrum stehen Mikrosaisonalität, japanische Techniken und Geschmacksbilder, kompromisslose Sorgfalt bei der Produktqualität, eine reduzierte Ästhetik und konstante Dynamik. Dylan Watson-Brawns Küche ist von aquarellartiger Zartheit und zugleich großer Substanz, von wegweisender Eigenständigkeit und technischer Souveränität. Sie besitzt, was in der Spitzenküche nach wie vor eine Rarität ist: eine klare, unverwechselbare Vision“. 

Und diese weiß er auszudrücken, wenn er wie ein Uhrwerk die hervorragend zubereiteten, produktfokussierten Mini-Gänge über den Tresen reicht: Tamago-Soufflée mit Kaviar, angegrillter Kohlrabi unter Miso, umami-satter Steinbutt um feinherben Radicchio, gegrillte Auster mit Limettenöl, lackierter Shiitake und krosses Shiitake-Tempura mit Fleur de Sel, dehydriertes Kürbispüree mit mariniertem Forellenrogen, Keulenfleisch von der Ente mit ihren Innereien im Kohlblatt, wochenlang gereifte Entenbrust in Sake-Jus, kandierte Langkumquat mit dicker Sahne gefüllt… Der Rausch ließe sich über mindestens fünfundzwanzig weitere Gerichte fortsetzen, doch wir wollen die Überraschung nicht verderben. Manche Gäste kommen monatlich, um zu erleben, welche neuen Ideen gerade in der ernst-Küche umgesetzt werden. 

Wohin es den jungen Koch als nächstes verschlägt, wird sich zeigen; vorerst möchte er Berlin treu bleiben. Doch ein Restaurant an der oberen Pazifikküste Nordamerikas? Ja, das wäre ein Traum von ihm, nur sei das Publikum dort noch recht konservativ und bedürfe wohl einiger Eingewöhnung. Ein Problem, mit dem er auch in Deutschland immer wieder zu kämpfen hatte: „Die Kritiker nahmen uns nicht ernst. Vielleicht ist die Auszeichnung ein Zeichen: Es geht nicht um den Look, es geht um Geschmack. Und wer den nicht probiert hat, sollte auch nicht urteilen“. 

Text: Nick Pulina

Foto: Florian Reimann